Heute war ich nicht im Theater, heute war das Theater bei mir. Livestream, mal wieder, und zwar aus Ulm. Und vorneweg gebührt es sich zu sagen: Glückwunsch, Kollegen – das war, was die Qualität der Technik betrifft, erste Sahne; besonders hervorzuheben ist der gute Sound. Das Projekt ist den Kinderschuhen entwachsen, würde ich sagen. So ungeteilt positiv kann ich über das Stück bzw. die Inszenierung nicht urteilen. Auf dem Programm stand IM NAMEN VON, jenes Voltaire-Werk namens MAHOMET, LE PROPHETE, das von Goethe ins Deutsche übersetzt und dann gnädig vergessen wurde, bis der Ulmer Intendant es zu Anfang dieser Spielzeit wieder hervorholte, bearbeitete und ihm den neuen Titel gab. Fairerweise muss man sagen, dass das Stück nicht das schlecht verschleiertes Islam-Bashing ist, das man erwarten konnte, im Gegenteil stellt das Stück – wie es durchaus Voltaires Absicht war – religiösen Fanatismus ganz allgemein an den Pranger, um allerdings an jeder Ecke in Klammern einzufügen: Wie das im Islam nun mal so ist.
Ich muss mir das Vergnügen versagen, die Handlung zusammenzufassen, weil ich während der Übertragung mal häuslichen Pflichten nachzukommen hatte und deshalb nicht alles mitgekriegt hab, ich kann allerdings mit Bestimmtheit behaupten, dass es eine SEHR verwickelte Familiengeschichte ist, die aus heutiger Sicht so haarsträubend konstruiert ist, dass wir sie im wahren Leben nur als Telenovela oder Oper akzeptieren würden. Zweck dieser Geschichte, bei der unter dem Vorzeichen der Blutrache unwissentliche Geschwisterliebe und blinder Vatermord grassieren, ist die Anklage der (falschen) Religion. Falsch deshalb, weil der Prophet selber zugibt, dass sie nur erfunden ist, und dass er alles und jeden in ihrem Namen zu seinem Vorteil manipuliert. Dass der Prophet im Erstberuf Mörder und Vergewaltiger war, ist ja klar, so war das bei den Nazis ja auch. Äh. Na, wie auch immer. Jedenfalls wird der Prophet von seinen Anhängern ständig „Führer“ genannt, und das nervt mich ein bisschen, denn was bringt die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und „allgemeinem“ religiösem Fundamentalismus (zum Beispiel islamischer Prägung)? Dieses Ausbuchstabieren von Bekanntem macht das Stück für mich flach. Nicht nur, dass die Handlung – ums gelinde auszudrücken – geradlinig ist, nicht nur, dass keine der Figuren mehrdimensional ist, auch der Gesamtzweck des Stückes ist eine Behauptung. Die Behauptung nämlich, dass andere Leute böse sind, nämlich die, die sich zu falschen Propheten aufschwingen, was dadurch bewiesen wird, dass sies sagen.
Gut gefallen hat mir das Bühnenbild von Mona Hapke, auch die Kostüme waren sehr schön – wenn auch nicht besonders stützend für die Figuren. Aber was will man stützen, wenn nicht so furchtbar viel Substanz da ist. Das Ensemble hat die Klaviatur der Emotionen, die das Autoren-Dreigestirn vorgibt, nach bestem Wissen interpretiert – aber so fühlte es sich halt durchweg an: Mechanisch. Interessanterweise gewinnt da eines der zentralen Bilder (es gibt nicht so viele) der Inszenierung, nämlich Séide (Dan Glazer), der von den religiösen Schleiern wie von Schlangen umfasst und gebrainwasht wird, bis er schließlich den ihm aufgetragenen Mord verübt, eine Doppeldeutigkeit: Auch alle anderen Figuren bewegen sich recht marionettenhaft durch das Stück. Und das ist eine Inszenierungsentscheidung. Bei einer Oper würde wahrscheinlich niemand was sagen – aber im Schauspiel darfs auch menschlicher, lebendiger zugehen. Zumal bei einem Thema, das uns allen unter den Nägeln brennen sollte. Ich will gar nicht weiter auf die Inszenierung eingehen, sondern noch einmal auf die Entscheidung zurückkommen, dieses Stück auszuwählen. Wir tragen eine große Verantwortung für die Auswahl der Geschichten, die wir erzählen. Es spricht überhaupt nichts dagegen, zu provozieren, aber eine Provokation sollte sich gegen eine simple Weltsicht richten, und sie nicht propagieren.